LESEPROBE "MALACHUS" - Website von Eibert Kremers

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LESEPROBE "MALACHUS"

MALACHUS
Kapitel I

Bevor ich meine Geschichte erzähle, möchte ich Sie zuerst auf eine Zeitreise in die Vergangenheit mitnehmen; zu jener sagenumwobenen Epoche in der Geschichte der Menschheit, über die zwar viel geschrieben und gerätselt worden ist, doch von der bis jetzt, aus archäologischer Sicht, nur wenig bekannt ist: das Zeitalter der Atlanter, das schätzungsweise um 10.000 v.Chr. seinen Höhepunkt erreichte.
Ihre technologisch fortgeschrittene Hochkultur übertraf in vieler Hinsicht die unsere, nicht zuletzt durch die Beherrschung und Anwendung kosmischer Wellenenergie. Atlantis, die Hochburg dieser Kultur, war ein kleiner Kontinent, der, geografisch gesehen, bevor er für immer von der Erdoberfläche verschwand, im östlichen Teil des heutigen Atlantischen Ozeans lag; durch eine schmale Meeresstraße von Westeuropa getrennt.
Die Macht und der Reichtum der Atlanter waren legendär, denn ihre Handelsflotte, unterstützt von einer gut ausgerüsteten Kriegsflotte, beherrschte die Meere um Westeuropa und Afrika, wie auch das Mittelmeer und brachte Schiffsladungen von Gold und Silber, Öle und Salz und anderen Kostbarkeiten nach Atlantis.
Das milde Klima, der fruchtbare Boden und eine intelligent geführte Landwirtschaft verhalfen den Bewohnern zu allen nur denkbaren Nahrungsprodukten in Hülle und Fülle.
Doch in diesem »Paradies auf Erden« brodelte es, als die Königssöhne untereinander und gegen den König konspirierten, jeder darauf versessen die Vorherrschaft von Atlantis zu übernehmen. In dieser unruhigen Zeit, in der das Schicksal von Atlantis und seinen Bewohnern seinen Lauf nahm, ereignete sich die folgende Geschichte.

In der Metropole schwebten die Fahrzeuge, wie von Geisterhand geführt, eine Elle hoch über den Straßen und Alleen, unsichtbar und lautlos angetrieben von den Energiewellen der hohen Kristalltürme, die, Obelisken nicht ganz unähnlich, das Stadtbild von Poseidon, der Hauptstadt von Atlantis, prägten.
Nördlich der Hauptstadt lag der Ausläufer eines schneebedeckten Hochgebirges wie ein Schutzwall gegen die im Winter Kälte bringenden Nordwinde, der sie an der Nordflanke wie eine Schneide auftrennte, zu den östlichen und westlichen Küstengegenden von Atlantis abbiegen ließ und dadurch Poseidon zu einem angenehmen Klima verhalf.
Auch in den Kanälen herrschte rege Betriebsamkeit. Plattschiffe ohne Segel zogen mit ihren Ladungen durch die konzentrisch angelegten Kanäle, die sich wie Kornfeldkreise vom Zentrum aus zu den Außenbezirken ausfächerten und von geradlinigen Wasserwegen in den acht Windrichtungen durchschnitten wurden, wobei der Wasserweg in Südrichtung breiter war als die übrigen Kanäle und als Hauptkanal das Zentrum mit Palast- und Tempelanlagen direkt mit dem Hafen am Meer verband.

Sinos lenkte sein schwebendes Fahrzeug, in Atlantis Karosse genannt, zu einer Brücke, die ins Zentrum führte. Er hatte das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden und deswegen kaum ein Auge für die prächtigen Gebäude und Parkanlagen, an denen er an diesem Sommertag vorbeifuhr.
Die geheimnisvolle Stimme, die ihm am Vorabend völlig unerwartet zugeredet hatte, hatte ihn davor gewarnt und kaum dazu beigetragen seine aufgewühlten Gedanken zu beruhigen. Durch die Belüftungsschlitze seines Schlafzimmers war die unbekannte Stimme zu ihm gedrungen; leise aber klar zu erkennen.
»Sinos, Hüter der Kristalle, hörst du mich?«
»Wer ist da?«, hatte er schlaftrunken erwidert, sich erschrocken auf die Ellbogen in seinem Bett aufgerichtet und im Dunkeln des Schlafzimmers umhergeschaut.
»Ssst!«, zischte die Stimme. »Du sollst nur zuhören! Geh morgen früh zum Tempel und verlange den Hohepriester Malachus. Wenn er nicht alleine ist bestehe darauf, ihn nur unter vier Augen sprechen zu wollen. Sobald du alleine mit ihm bist, sagst du zu ihm: »Sagittarius ist bereit«. Er wird das verstehen und der Rest erledigt sich von selbst. Sprich mit keinem anderen Menschen darüber, auch nicht mit deiner Frau, denn sonst ist dein Leben und das Leben vieler Unschuldiger in Gefahr und sorge dafür, dass du Opfergaben bei dir hast, damit die Spione denken, du willst zu den Göttern beten. Denn Spione werden da sein; sie waren schon immer da«.
Die Stimme schwieg.

»Wer bist du?«, flüsterte er unsicher. »Und was soll das alles?«
»Ich bin ein Freund, der von einem fernen Stern zu dir gekommen ist, um einen Teil der Saat, die wir damals in Atlantis ausgestreut haben, zu retten«, erwiderte die Stimme. »Im Sternbild Stier findest du unser Sternensystem.«
Verblüfft fragte Sinos: »Die Plejaden?«
»Ja, und zwar vom Stern »Electra«, eine der sieben Töchter von Atlas«, erklärte die Stimme. Doch das alles soll dich jetzt nicht kümmern. Wiederhole die Botschaft, die du Malachus überbringen sollst«.
Er tat wie geheißen, die Stimme murmelte zufrieden und verabschiedete sich dann mit den Worten: »Heil dem Schützen, und viel Glück, denn das wirst du brauchen!«

Danach hatte Sinos noch lange wach gelegen und über die erstaunliche Mitteilung des Fremden, er komme von den Plejaden, nachgegrübelt.
Mit seinem Fernrohr hatte er öfter diesen Sternenhaufen mit dem schönen Siebengestirn, das aus ihm hervorragte, betrachtet. Aber wie war es möglich, dass der Fremde diese Schwindel erregende Entfernung überbrückt hatte?
Und was meinte er mit der Saat? Meinte er damit die Atlanter? Hieß das, dass unsere Vorfahren von den Plejaden kamen? Und um welche geheimnisvolle Sache handelte es sich überhaupt?
Wer waren diese Spione, die ihm nach dem Leben trachteten falls er entdeckt wurde oder einen Fehler begann? Die Stimme des Fremden hatte sehr überzeugend geklungen; nicht weil die Worte mit Nachdruck betont wurden, sondern weil gerade dieser fehlte. Das hatte ihn wirklich beeindruckt und ihm auch Angst gemacht.
Als er schließlich erschöpft einschlief, hatte er einen merkwürdigen Traum.
Er ritt ohne Sattel auf einem braunen Pferd. Seine Beine schmiegten sich fest um den gerundeten Pferdebauch und vermittelten ihm ein Gefühl des Einsseins mit dem Tier. Es reagierte sofort auf Befehle, die er mit den Fersen gab, und er wunderte sich darüber, dass er so gut reiten konnte und gar keine Angst vor dem Tier empfand. Er, der Wissenschaftler, der noch nie zuvor in seinem Leben ein Pferd geritten hatte.

Irgendwie half ihm die Erinnerung an diesen Traum, an diesem Morgen seine Fassung zu bewahren und mit seiner Frau während des Frühstücks zu plaudern als wäre nichts geschehen. Nachdem er sich mit einem Kuss von ihr verabschiedet hatte und in seine Karosse gestiegen war, hatte sie logischerweise angenommen, er mache sich auf den Weg zu einem der Kristalltürme, denn ihm, dem Hüter der Kristallenergie, oblag die Verantwortung für eine einwandfreie Energieversorgung der Hauptstadt.
Sobald er das enorme Stufenplateau vor dem Haupttempel  erreichte, stellte er seine Karosse ab, stieg aus und ging zu Fuß die Stufen hinauf, um den Hohepriester in seinen Gemächern aufzusuchen. Malachus war, ebenso wie er, Mitglied im »Rat der Sieben«, dem allerhöchsten Gremium, das der König in wichtigen Staatsangelegenheiten konsultierte. Der Hohepriester war der Älteste und wahrscheinlich auch der Weiseste unter ihnen,  dachte er. Immer messerscharf in seiner Beurteilung komplizierter oder komplexer Situationen, und immer einen Schritt voraus, wenn es darauf ankam, die Konsequenzen einer Aktion einzuschätzen. Seine Kontakte mit Malachus beschränkten sich jedoch auf die Ratssitzungen, denn ansonsten trennten sie Welten: Religion und Wissenschaft. Nichtsdestotrotz empfand er Respekt für den Priester, der das geneigte Ohr des Königs zu besitzen schien.

Er fand den Hohepriester im Vorhof des Tempels, umringt von seinen Jüngern, die ihm zuhörten. In den angrenzenden Galerien entdeckte er weitere Gestalten, die die Szene beobachteten. Priester, Besucher oder vielleicht Spione? Er wusste es nicht. Er versuchte sich unauffällig zu verhalten, nahm auf einer Sitzbank aus Granit Platz und stellte die Opfergaben neben sich ab.
Ein Priester, der ihn anscheinend beobachtet hatte, kam wie auf Signal auf ihn zu. „Ich möchte zu den Göttern beten, aber vorher den Hohepriester konsultieren”, beantwortete er die unausgesprochene Frage des Priesters.
„Sobald er mit seinem Unterricht fertig ist, werde ich ihm dein Gesuch übermitteln”, antwortete der Priester und verschwand wieder in der Galerie. Als der Unterricht vorbei war, sah er, wie der Priester auf Malachus zuging und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Der Hohepriester nickte, erwiderte etwas und verschwand durch einen der Durchgänge, der ins Innere des Tempels führte.
Folge mir bitte!”, sagte der Priester, der plötzlich vor ihm aufgetaucht war.
Er erhob sich, griff die Opfergaben und folgte dem Priester, der ihn schnell und leise durch ein Labyrinth von Gängen und Korridoren bis zu einem kleinen Raum führte, der, abgesehen von einem Tisch aus Stein, völlig leer war! Der Priester verriegelte die Tür, trat dann auf eine Wand zu und öffnete eine Geheimtür. „Lege deine Opfergaben auf den Tisch und gehe hier hinein” bat ihn der Priester während er auf den geheimen Durchgang zeigte. Zögernd ging er hinein und hörte wie die Geheimtür hinter ihm verschlossen wurde.
Er befand sich in einem dunklen Gang, der zu einer schwach beleuchteten Öffnung führte. Unentschlossen blieb er stehen, doch dann nahm er sich zusammen und hielt auf die Öffnung zu.
Malachus wartete schon auf ihn, als er in ein großes Zimmer trat, das in ein angenehmes Licht getaucht war.
»Komm Sinos, setze dich«, begrüßte ihn der Hohepriester und wies ihm einen bequemen Sessel zu. Während er sich setzte schaute er sich verstohlen die Einrichtung des Raumes an.
»Ja«, sagte Malachus, der seinen Blicken folgte, »dieses ist mein privates Arbeitszimmer«
Abgesehen von einem großen Arbeitstisch und einigen Sesseln gab es nur Wandregale, die  mit schweren Büchern gefüllt waren, und ein kleines Podest, auf dem etwas Kugelförmiges lag, jedoch von einem schwarzen Tuch verdeckt wurde.
Der Hohepriester setzte sich ihm gegenüber und stellte fest: »Du bist nicht gekommen, um zu beten Sinos, habe ich Recht?«
»Ja«, erwiderte dieser. »Ich bin nur gekommen um dir eine sonderbare Nachricht zu überbringen.
Die Nachricht lautet: Sagittarius ist bereit!«
»Ich weiß«, erwiderte Malachus. »und schaue nicht so erstaunt, denn wir Priester haben so unsere eigenen Quellen.«
Dabei sah er bedeutungsvoll in Richtung Podest.
»In der Kugel habe ich schon gesehen, dass du kommen würdest«, fuhr er munter fort. »und mich darüber gefreut, dass du der Auserwählte bist. Sagittarius, der Schütze!
Du hast es mir soeben selbst bestätigt.«
Sinos traute seinen Ohren nicht und fing an: »Ich verstehe nicht...«, doch der Hohepriester unterbrach ihn, indem er abwehrend seine rechte Hand hob: »Natürlich kannst du es nicht verstehen. Ich bitte um Verzeihung, dass ich dich so plump damit überfalle. Ich werde dir alles erklären!«
Sein Gesichtsausdruck wurde plötzlich sehr ernst.
»Es ist dir wahrscheinlich nicht entgangen«, fuhr er langsam fort, »dass mich der König häufig zu Rate zieht, ohne den Rat der Sieben einzuberufen.
Und er macht das aus einem sehr triftigen Grund, um das einmal vorweg zu nehmen.
Wie es dir aus den Ratssitzungen bekannt sein müsste, gibt es immer wieder Unruhen und Sabotageakte in den von den Prinzen geführten Provinzen, die es eigentlich gar nicht geben dürfte.
Und obwohl der König seinen Söhnen befahl, die Ordnung in den Provinzen wieder herzustellen, passierte nichts.
Im Gegenteil, es wurde sogar noch schlimmer.
Als ihn dann die Information erreichte, die Prinzen selbst steckten als Urheber hinter dem Ganzen und hätten bereits ein Netzwerk von Spionen und Intriganten aufgebaut, das sich bis zum Hofe erstreckte, hat er mich im Geheimen damit betraut, die Größe der Verschwörung festzustellen. Und die ist, lieber Sinos, größer und schlimmer als wir befürchtet hatten.
Denn Trojas und Octas, die beiden ältesten Söhne, haben sich zusammengetan und besitzen de facto bereits die Befehlsgewalt über unsere Hauptstadt via Mittelsmännern beim Militär, bei Hofe, unter den Kaufleuten und... unter deinen Kristalltechnikern.
Sie brauchen nur den Hebel umzulegen, und der Bürgerkrieg bricht aus!
Und einen Krieg wird es geben, denn es steht schon in den Sternen geschrieben, unwiderruflich.
Auch das weiß der König.
Auch, dass der Krieg verheerende Folgen für Atlantis und seine Bewohner haben wird.
Unsere Kultur wird durch pure Machtgier für immer vom Erdboden verschwinden.
Doch die Sterne haben auch verkündet, dass es einen Auserwählten, eine Galionsfigur, mit dem Sternbild Sagittarius geben wird, der eine Hundertschar Atlanter zum Festland führen wird, um dort einen Teil unserer Kultur zu bewahren.
Und dieser Hüter, dieser Schütze, Sinos... bist du!«

Als er etwas später, nach diesen atemberaubenden Enthüllungen von Malachus, seine wirbelnden Gedanken wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, fiel ihm ein Vorfall ein, der sich vor einigen Monaten ereignet hatte.
Ein hochrangiger Militär hatte ihn aufgesucht und wollte wissen, ob die Wellenenergie eventuell auch für kriegerische Zwecke eingesetzt werden könnte.
Empört hatte Sinos eine solche Diskussion zurückgewiesen. Doch der Mann hatte sich
sehr hartnäckig gezeigt, eine eventuell zu befürchtende Invasion vom Festland als Vorwand genommen, um dann weiter zu fragen, ob Sinos im Stande wäre, Wellenkanonen zu bauen.
Sinos hatte auf seine Stirn gezeigt, auf der eine goldene Wellenform eingebrannt war, und gefragt: »Weißt du, weshalb ich dieses Zeichen trage?
Es wurde mir unter Schmerzen aufgetragen, damit ich niemals den heiligen Eid vergesse, den ich
geleistet habe. Ich habe geschworen, die Wellenenergie nur für friedliche Zwecke einzusetzen!«
Er hatte den verdutzten Mann hinausgeworfen, der aber hatte, bevor er verschwand, sich nochmals umgedreht und Sinos verächtlich zugezischt: »Du Dummkopf, wenn du wüsstest!«
Und jetzt wusste er, aber leider zu spät.
»Heute Nacht wirst du mit einer Gruppe von Männern, Frauen und Kindern Atlantis heimlich verlassen«, fuhr der Hohepriester fort, »denn wir wissen, dass für morgen die Machtübernahme geplant ist.
Ein Plattschiff wird euch aus der Hauptstadt über den Südkanal zum offenen Meer bringen, wo eine königliche Barke wartet, die euch zum Festland bringen wird. Und um deine unausgesprochene Frage zu beantworten: Nein, weder der König oder die Königin, noch ich werden mitkommen, doch dafür deine Frau und deine Kinder. Unser Schicksal ist vorgezeichnet. Davon abzuweichen, würde nur eure Mission gefährden.«

Eine unangenehme Stille trat ein, als Malachus schwieg und traurig vor sich hin blickte.
Doch dann rappelte sich der Hohepriester hoch und sagte beherzt: »Komm Sinos, der König möchte noch mit dir sprechen.«
Er ging auf ein Regal zu und betätigte einen verborgenen Hebel. Lautlos drehte sich das Regal und gab einen weiteren Geheimgang frei…

Das Plattschiff glitt lautlos aus seinem Versteck unter der Tempelanlage auf den Südkanal zu.
Im Innern, eng zusammengepfercht mit den anderen Flüchtlingen, horchte Sinos krampfhaft nach jedem Zeichen, das Verrat oder Entdeckung bedeuten würde. Doch nur das leise Summen der Motoren,
die ihre Energie von einem seiner Kristalltürme bezogen, war zu vernehmen.
Die gedämpfte Deckenbeleuchtung verlieh den Gesichtern der ihn umringenden Menschen etwas Gespenstisches.
Schweigsame Masken, die, genau wie er, gespannt versuchten, jedes Geräusch von draußen zu deuten. Sogar die Kinder und Kleinkinder schienen mitzuhören, denn keines gab einen Laut von sich. Er nickte seiner Frau und seinen Kindern ermutigend zu. Noch eine halbe Stunde, dann würden sie den
Südkanal verlassen und via Hafen das offene Meer erreichen.

Plötzlich fing das Boot an zu stampfen und jeder versuchte erschrocken Halt zu finden.
Doch als sich das Boot nach einiger Zeit wieder beruhigt hatte, atmeten alle erleichtert auf.
Eines der Wachboote, ging es Sinos durch den Kopf, nur das konnte mit ihren kräftigen Motoren solch einen heftigen Wellengang verursachen.
Als später das Boot anfing, träge Schaukelbewegungen zu machen, wusste Sinos, dass sie sich auf
dem offenen Meer befanden.
Doch das Umsteigen auf die Barke verlief alles andere als einfach.
Das Plattschiff schaukelte wie Treibgut neben der Barke.
Da das flache Deck keinen Halt bot, hatte man von der Barke Leinen hinübergeworfen, dessen Enden von Bootsmaaten in der Steuerkabine gehalten wurden.
Einer nach dem anderen, Mann oder Frau, und meistens mit einem Kind an der Hand oder einem Kleinkind auf dem Arm, kämpfte sich an den Leinen zum rettenden Deck der Barke vor.
Sobald die Aufwärtsbewegung des Flachschiffes einsetzte, griffen Matrosen auf der Barke bereits nach den Wartenden am Geländer, um sie an Bord zu hieven, bevor das schwankende Deck des Plattschiffes wieder abtauchte.
Sinos erreichte als letzter mit Frau und Kindern wohlbehalten die Sicherheit der Barke.
Als die Leinen eingeholt waren und das Plattschiff abdrehte, wusste er, dass es keinen Weg mehr zurück gab und auf ihn und die Gruppe, die er führen musste, nur eine ungewisse Zukunft wartete.
»Oh, Atlantis«, entfuhr es ihm, »warum musst du sterben?«

Als sie das kleine grüne Tal mit seinem Weidegrund und kleinen Bächen ausgekundschaftet hatten, wusste Sinos, dass sie sich hier für immer niederlassen würden.
Nach ihrer wochenlangen, anstrengenden Reise zu Fuß, waren sie auf eine große ringförmige Felsformation gestoßen, die wie ein Atoll aus der Landschaft empor sprang und dieses kleine Tal umschloss.
Sie hatten in einer der Felswände den verborgenen Zugang zu einem ausgedehnten Höhlensystem entdeckt, das wie geschaffen schien, Einsiedlern wie ihnen als Bleibe und Schutz gegen tosende Naturelemente und wilde Tiere zu dienen.
In dieser von der Natur erschaffenen Burg, würden sie ihre neue Existenz aufbauen und die Kultur von Atlantis wieder aufleben lassen! Als er seine Entscheidung bekannt gab, brach ein großes Jubeln aus. Einige Frauen weinten erleichtert, da die Strapazen der Reise zu Ende waren.

Viele Jahre danach, als die kleine Kolonie sich zu einer gut funktionierenden und selbst versorgenden Gemeinschaft entwickelt hatte, schaute Sinos über die bestellten Äcker und dachte über die Vergangenheit nach.
Einen Mond nach ihrer Ankunft in diesem Tal hatte die Erde gebebt, und sie waren alle in das Höhlensystem geflüchtet.
Nachdem gewaltige Schockwellen die Wände erzittern ließen und sie das Schlimmste befürchteten, war unerwartet wieder Ruhe eingetreten. Als sie sich noch zögernd nach draußen gewagt hatten, hatte sich im Westen eine schwarze Wolke aufgetürmt, die immer breiter und höher wurde und den Tag fast in eine Nacht verwandelte.
Da wusste er, dass die Sterne nicht gelogen hatten und Atlantis für ewig verschwunden war.
Sofort hatte er seine Leute angewiesen, sich wieder in die Höhlen zu begeben. Und nicht lange danach hatten sie im Schutz der Felsen beobachtet, wie Steinhagel und Gesteinsbrocken auf den Boden schlugen.
Später hatten sie die größten Steinbrocken gesammelt und wie einen Schatz in den Tiefen des Höhlensystems versteckt; repräsentierte das Gestein doch das letzte Erbe, welches Atlantis ihnen überlassen hatte.
Er empfand tiefe Trauer, als er an das schreckliche Ende von Atlantis und seinem Volk zurückdachte.
So etwas durfte niemals wieder passieren.
Die Nachwelt musste gewarnt werden, was pure Machtgier alles entfesseln konnte.
Das Schicksal von Atlantis sollte niedergeschrieben werden, damit es von Generation zu Generation weitergegeben werden konnte. Aber nicht auf Papier, denn das würde den Zahn der Zeit nicht überstehen.

Alle schauten ihm zu, als er seine Werkzeuge zusammensuchte und eine brennende Fackel aus einer Halterung nahm.
Heute würde er die letzte Hand an die Serie von Felszeichnungen legen, die sie in mühseliger Arbeit in die Höhlenwände gemeißelt hatten: die Geschichte und das Schicksal von Atlantis.
Die letzte Zeichnung stellte die Umrisse eines Mannes dar, der beschwörend auf seine Stirn zeigt.
Und auf diese Stirn würde er jetzt den dünnen Streifen aus Gold, den er zu einer Wellenform gebogen hatte, anbringen.
Es würde ihr Vermächtnis und ihre Warnung an die Nachwelt sein, niemals den heiligen Eid mit dem Kosmos zu brechen, der besagt, dass die Wellenenergie nur zu friedlichen Zwecken eingesetzt werden darf, zum Wohle der Menschheit!

Kapitel II

Es hatte meine Frau und mich in jenem Sommer wieder nach Entrechaux in der Provence verschlagen, um in der Nähe dieses Städtchens auf dem Campingplatz ›Les trois Rivières‹ zu zelten, wie wir das früher mehrmals zusammen mit unseren beiden Kindern getan hatten.
Als wir Mitte Juli eintrafen, war es bereits sehr warm.
Heilfroh, dass wir unserer Blechdose entfliehen konnten, hatten wir unser Zelt an einer schattigen Stelle in Flussnähe errichtet und anschließend die Kühle des Wassers gesucht.
Die Gemeinde hatte mit einem Bagger im niedrigen Flussbett einen großen Erdwall aufgeworfen, sodass eine Art Mini-Stausee entstanden war, in dem die Einwohner, aber auch wir Touristen nach Herzenslust schwimmen konnten.
Da es auch die nächsten Tage so warm blieb, lagen wir tagsüber entweder im Wasser, auf einer Liege am Kiesstrand oder lasen im Schatten der Bäume beim Zelt, denn wir hatten uns vor der Abfahrt mit einem großen Stapel Bücher aus der Bücherei eingedeckt.
Eines der Bücher, das ich ausgewählt hatte, handelte über verloren gegangene Zivilisationen, insbesondere über Atlantis.
Gebannt las ich, wie die Kultur der Atlanter in mehreren Hinsichten der unseren überlegen war. Zum Beispiel die umweltschonende Energieversorgung mittels großer Kristalle, die, aufgestellt in Türmen, das Sonnenlicht (oder kosmisches Licht?) einfingen und es wieder in Wellen ausstrahlten, um damit Fahrzeuge laut- und emissionslos durch die Luft schweben zu lassen. Eine Energie, die auch zu deren Untergang führen sollte, als Machtkämpfe das Land zerteilten und die Kristalle für Kriegshandlungen eingesetzt wurden; Wellenkanonen, die nicht nur die gegnerischen Fahrzeuge verdampften, sondern auch das Gleichgewicht in den geotektonischen Schichten dieses Kontinents zerstörte, wodurch Atlantis für
immer im Ozean verschwand.
Schade, dachte ich, als ich das Kapitel über Atlantis zu Ende gelesen hatte, dass so wenig über Atlantis und seine Kultur bekannt ist.
Gerne hätte ich mehr über diese Wellen und diese Kristalle erfahren. Das wäre ein Ding, wenn man tatsächlich herausfinden könnte, wie diese kosmische Energie anzuzapfen ist! Ich malte mir schon aus, wie man mit Hilfe dieser reinen Energie die vielen Umwelt- und Hungersnotprobleme in der Welt lösen könnte.
Abends, als meine Frau und ich im Dunkeln vor dem Zelt saßen und ein Glas Wein tranken, war es, als blitzten die Kristalle von Atlantis vor meinem geistigen Auge auf.
Doch dann wurde mir klar, dass ein Gewitter im Anmarsch war und sich mit hellen Blitzen ankündigte.
Als sich das Gewitter nachts über unseren Köpfen entlud, wollte meine Frau unbedingt in
den Käfig von Faraday, also in das Auto.
Da unser Zelt unter einem großen Baum stand, der geradezu darauf wartete von einem Blitz getroffen zu werden, stimmte ich ohne Bedenken zu.
Um die Zeit, die wir im Auto verbrachten, ein wenig zu vertreiben, machten wir Pläne für den nächsten Tag.
»Wie wäre es«, fragte meine Frau, »wenn wir vormittags mal einen kleinen Ausflug in die Umgebung machen?«
»Nach dem Gewitter von heute Nacht ist es morgen bestimmt herrlich kühl.«
Die Idee gefiel mir auch gut und so überlegten wir, welches Ziel wir auswählen würden. Irgendetwas in der Nähe, damit wir nachmittags wieder zurück waren, um zu baden und zu faulenzen.
Da fiel mir ein, dass wir bei früheren Ausflugsfahrten in Richtung Carpentras immer an einer karstigen Gegend vorbeikamen, von der aus man am Horizont eine steinige Hügelkette aufragen sah.
Ich hatte damals anhand einer Karte herausgefunden, dass diese Hügelkette den Namen ›Les Dentelles‹ (= Die Zähne) trug und ein kleines Tal wie einen Ring umschloss. Auf der Karte war das Tal grün eingezeichnet, was auf Weidegrund hindeutete. Ein schmaler Weg führte von der einen zur anderen Seite hindurch. Auch der Weg, der von der Hauptstraße dorthin führte, war mit einer fast unsichtbaren Linie auf der Karte angegeben, was darauf schließen ließ, dass nur wenige Touristen hier einen Abstecher machen würden.
»Wie wäre es mit ›Les Dentelles‹?«, fragte ich meine Frau.
»Aber dann lassen wir das Auto an der Hauptstraße und fahren mit dem Fahrrad weiter«, stimmte sie mir begeistert zu.
Am nächsten Morgen stellten wir das Auto im Schatten eines Baumes an der Hauptstraße ab, nahmen die Fahrräder vom Dachträger herunter und radelten erwartungsvoll den Sandweg entlang zu den immer größer wirkenden Steinwänden, die wie schweigende Wächter den Zugang zum Tal versperrten. Der Weg führte aber unbeirrt auf die Steinmassive zu, und als wir nahe genug heran gekommen waren, sahen wir
einen breiten Durchgang, der sich in S-Form durch das Gestein schlängelte.
Wir mussten von unseren Rädern steigen, da Steinbrocken und Geröll von beiden Seitenwänden heruntergerollt und auf den Durchgangsweg geraten waren.
Die Spuren, die sie beim Hinunterrollen in dem sandigen Boden hinterlassen hatten, sahen noch ziemlich frisch aus, sodass die Vermutung nahe lag, dass das nächtliche Gewitter auch hier getobt hatte, wie vereinzelte Regenpfützen ebenfalls bezeugten.
Der Anblick, der sich dann bot, als wir in das Tal traten, war märchenhaft. Wie von einem Aussichtspunkt blickten wir hinunter auf eine grüne Landschaft mit Wiesen gesäumt von niedrigem Gebüsch und hier und da Baumgrüppchen. Herrliche Blumen in den verschiedensten Farben wuchsen auf den Abhängen und säumten den Sandweg, der durch das Tal führte.
Auffällig war die tiefe Stille, die, wie ein unsichtbares Kleid, die Landschaft umgab. Betört von der Blumenpracht stellte meine Frau ihr Rad ab und kletterte auf den steinigen Hang, um wie ein Kind im Spielwarenladen von der einen Blumensorte zur anderen zu hasten.
»Die will ich mit nach Hause nehmen«, rief sie noch entzückt, als sie einen Schrei von sich gab und von der Bildfläche verschwand.
Ich warf mein Rad nieder und spurtete zu der Stelle, an der sie vorher noch gebückt gestanden hatte. Entsetzt spähte ich in eine große Spalte im steinigen Boden, in die meine Frau einige Meter tief hinuntergefallen war.
»Hilf mir heraus!«, stöhnte sie und schaute ängstlich zu mir hinauf.
Leichter gesagt als getan, dachte ich, und schaute mich um, in der Hoffnung einen langen Ast zu finden, mit dessen Hilfe ich meine Frau aus der Spalte ziehen konnte.
Stattdessen sah ich, dass sich die Spalte an einer Seite verbreiterte und nach mehreren Metern sogar eine leichte Einstiegsmöglichkeit bot.
»Kannst du dich festhalten?«, fragte ich meine Frau.
Als sie stumm nickte, sagte ich beruhigend: »Gut, denn weiter hinauf ist die Spalte so breit, dass ich von dort leicht zu dir kommen kann. Also bleib’ wo du bist und warte auf mich!«
Als ich sie endlich erreichte, griff sie meine ausgestreckte Hand. Gemeinsam arbeiteten wir uns die ersten Meter auf den Vorsprüngen an der Wand voran, bis der Boden einen flachen Halt zum Stehen bot, der sich immer mehr weitete.
»Puhh«, sagte meine Frau, »habe ich mich erschrocken, als es da hinunter ging!«, und schaute ängstlich in die einengende Spalte zurück, die wir gerade verlassen hatten. Erleichtert wollten wir die letzten Meter hinter uns bringen, als ich auf Augenhöhe an der linken Wand im einfallenden Sonnenlicht etwas glitzern sah.
»Warte mal, sagte ich zu meiner Frau, siehst du das?«, und zeigte mit meinem Finger auf den schwarzen Umriss einer menschenähnlichen Gestalt, die wie von Künstlerhand in die Wand eingemeißelt worden war. Und auf der Stirn, über den mandelförmigen Augen, sah ich etwas Goldfarbenes glitzern: Eine perfekt geformte, horizontal verlaufende Wellenform...

Dieses Ereignis ist mir bis heute so gut in Erinnerung geblieben, da ich damals das Schlimmste befürchtete, als meine Frau vor meinen Augen in den Boden versank. Dieser Schreckensmoment war es, der mir diesen Vorfall für immer ins Gedächtnis prägte und nicht die Entdeckung der Wandzeichnung mit
der goldenen Welle. Damals war das für uns eine Kuriosität, wie andere ›Entdeckungen‹, die man macht, wenn man seinen Urlaub in einem fremden Land verbringt und versucht, dessen Kultur näher zu kommen.
Nein, die Bedeutung der goldenen Welle war mir damals noch vollkommen verschlossen, und so landete dieser Teil der Geschichte zunächst einmal bei den übrigen »Souvenirs« in meinem Erinnerungsfond. Zu Unrecht, wie ich erst viel später feststellen sollte, denn es war einer der vielen Fingerzeige, die mir in meinem Leben gegeben wurden. Und mit ihnen verband sich ein geheimnisvolles Unterfangen, in das ich ahnungslos verwickelt wurde.

Ende von Kapitel II


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